"Die 10 Gebote"

Biografie Karl M.

 

Auszug aus dem "Vorwort" sowie aus dem Kapitel "Kindheit im Krieg"


Liebe Familie,

ich sehe die Fragen in euren Augen: Warum hat er seine Lebensgeschichte heimlich aufgeschrieben? Warum hat er sie uns nicht vorher gezeigt? Wie komme ich weg? Was steht wohl drin? Und warum heißt sie „Die 10 Gebote“? Ihr werdet verstehen, dass ich mir das Recht genommen habe in meiner Biografie, auf den nächsten 352 Seiten, meine Sicht der Dinge zu beschreiben.

 

(…)

 

16. März 1945. Es war gegen Abend. Mit meinen Geschwistern und unserer Mutter rannten wir, wie so oft die letzten Wochen, wieder in den Keller. Ich hatte furchtbare Angst bei den Luftangriffen. Das Pfeifen der Bomben, die Einschläge, die Sirenen, die verängstigten Menschen, der stickige Keller, das war einfach nur furchtbar für mich. (…)

 

Zum Glück war der Luftangriff dann aber bald vorbei. Alle gingen wieder hoch ins Haus. Josef hat mich dann noch überredet, in den Garten zu gehen, denn ein Einschlag muss sich in unmittelbarer Nähe zu unserem Haus ereignet haben und den wollte er unbedingt anschauen! Der Josef war da unerschrockener als ich. Gut, er war auch älter. Aber ich war als Kind schon generell ein ziemlicher Angsthase. Und in der Tat: Hinterm Haus war ein Krater, vielleicht drei Meter Durchmesser. Ob es nur eine kleine Bombe war oder von irgendeinem Nachbarhaus Teile runtergefallen waren, kann ich heute nicht mehr sagen. Ich sehe nur noch den Krater – und den daneben liegenden deutschen Soldaten.

 

Was dann geschah, kann ich nicht erklären, sondern nur noch beschreiben. Josef schaute mich: „Wenn die Amerikaner den hier finden, denken Sie, dass bei uns im Haus noch mehr sind, dann bringen sie uns alle um.“ Gesagt habe ich nichts, zumindest erinnere ich mich nicht dran. Jedenfalls nahmen wir den Soldaten, der unheimlich schwer war, schleppten ihn die wenigen Meter zum Main und warfen ihn dort rein. Da es schon dunkel war, sahen wir ihn nur ein paar Meter auf dem Fluss schwimmen, bis wir ihn kurz darauf aus den Augen verloren.


Ja, wir fühlten uns damals zunächst als Helden, auch wenn wir keinem von dieser Geschichte erzählt haben. Zu groß war die Angst, dass unsere Mütter uns dafür bestrafen würden – wir hatten eben trotz allem das Gefühl, dass wir etwas Unrechtes getan hatten. (…) Ich hatte schon viele tote Menschen gesehen: meinen Großvater auf dem Sterbebett, im Sarg bei den Beerdigungen als Ministrant, auch schon tote Soldaten. Dennoch war es diesmal anders. Das Bild vom forttreibenden Soldaten begleitet mich bis heute. Denn ich bin mir bis heute nicht sicher, ob der Mann wirklich tot war …

 

 

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